Meine Lehre aus der Leere

Mit Begriffen wie „Fortschritt“, „Innovation“, „Produktivität“ haben wir es geschafft, das derzeitige gesellschaftliche Geschehen und ihre Förderer zu glorifizieren, zu plakatieren und sie weltweit zu vermarkten. Was aktuell in der Gesellschaft passiert, kann wie folgt beschrieben werden:

 

Eine leere Blase bewegt sich durch die Gesellschaft. Eine Blase, in der es keine Bedeutungen gibt. Eine Blase, in der Werte wie Freiheit, Selbstverwirklichung oder Fortschritt zu einer bedeutungslosen, oberflächlichen Aneinanderreihung von Buchstaben werden. Diese Blase erreicht alle Schichten und wird ununterbrochen vergrößert, indem Menschen dazu animiert werden, Ideale zu vakuumieren – sie also ihres wertvollen Inhaltes zu berauben. Auf diese Weise wird diese leere Kugel immer umfassender. Persönlichkeiten, Erfahrungen, Empfindungen, Gefühle, Intuition schwinden in ihr. Und merkwürdigerweise erfreuen sich viele des Anblickes dieser Leere. Wir freuen uns beispielsweise darüber, dass unser Einkauf binnen Minuten vor unserer Haustür landet und wir keinen unnötigen Schritt nach draußen gehen müssen. So steigern wir unsere Effektivität und Produktivität. Verlieren aber unser Verständnis für das Menschsein. 

 

Es ist beispielsweise auch merkwürdig, dass Forschung für therapeutische Zwecke getrieben wird, dass allerdings Prestige, Selbstinszenierung und Selbstvermarktung die größten Motivationsfaktoren dabei sind und dass dafür viele Ideale wie die Würde und Freiheit zertreten werden. Reflexion sowohl bezüglich der Ideale, die man während der Forschung verfolgt als auch bezüglich technischer Fragestellungen bleibt unerkannt oder unerwünscht. Forschung für den Menschen - ohne die kleinste Idee vom Humanismus zu haben.

 

Tragikomisch ist, dass die Forschung für therapeutische Zwecke zu einem Gesellschaftsprinzip beiträgt, das mehr Menschen therapiebedürftig macht. Wettrennen um die besten Ergebnisse, strenge hierarchische Verhältnisse, die Persönlichkeiten nicht anerkennt, Prestigebestrebungen, die Offenheit und Lernfähigkeit von Grund auf eliminiert - all das sind falsche und ungesunde Ideen, welche die heutigen Visionäre in die Welt setzen. Kann man bei Forschung, die für das Wohl der Menschen gemacht wird und bei der man den oben genannten Ideen folgt und auch für diese wirbt, erwarten, dass das Wohl der Menschen gesteigert wird? Ich denke nicht. Doch wahrscheinlich ist dies umso besser für die Visionäre und Pioniere unserer Gesellschaft. Ihr Marktpotenzial vergrößert sich. Anders gesagt: Ihr Gebiet, auf dem sie sich vermarkten können, ist im ständigen Wachstum. Ist das euer Marketingkonzept? 

 

Dies ist nur eine von vielen Merkwürdigkeiten, die mir aufgefallen sind. Was tun wir dagegen? Wir begegnen diesen Missständen mit einer immer weiter zunehmenden Ignoranz, sodass die tatsächlichen Bedeutungen humanistischer Ideale sich unseres kollektiven Bewusstseins Schritt für Schritt entziehen. So reden wir von dem Wohl des Menschen. Haben aber schon längst vergessen, dass eine Klassifizierung der Menschen nach Titeln nicht dem Wohle des Menschen dient. Oder wir sprechen vom Fortschritt. Sind aber relativ rückschrittlich, wenn wir uns keine Gedanken über den Sinn technologischer Innovationen machen. Noch rückschrittlicher ist es, wenn wir für den sogenannten Fortschritt unsere bisherigen Errungenschaften opfern, die vor allem darin bestehen, dass ein Menschen unabhängig von Rang und Titel als wertvoll anerkennt werden kann. Letztendlich stehen wir gegenüber dieser wachsenden Leere an Inhalten und Bedeutungen. 

 

Meine Lehre in Anbetracht dieser Leere ist: Wir brauchen ein themenumfassendes Bildungsprogramm, das alle technischen Gelegenheiten und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begreift, sich entsprechend anpasst und das Reflexionsvermögen stark ausbildet und fördert. Nur so kann sich ein dem 21. Jahrhundert gerechter Humanismus entwickeln. Das Bildungsprogramm muss nicht nur themenumfassend sein. Es muss auch unbedingt die gesamte Gesellschaft durchdringen - niemand darf ausgeschlossen werden. Nur so werden wir um Ideen reicher, die wir zu einem neuen humanistischen Ideal formen können. Hierfür müssen vor allem gegen den fatalen Trend steuern, der Bildung nicht als kostenloses Allgemeingut wahrnimmt, sondern sie als Teil des freien Marktes missversteht und diverse Möglichkeiten in ihr für Privatisierungen ausnutzt.

 

Es gibt viel zu sagen, viel zu berichten. Und ich sehe auch, dass das, was ich oben geschrieben habe, noch durcheinander und nicht so ganz verständlich ist. Es haben sich in den letzten Jahren viele Erfahrungen und Gedanken in mir gesammelt, die nun darauf warten verarbeitet und geordnet zu werden. Es gibt zwei große Fragen, die mich in den letzten Jahren sehr beschäftigt haben und an die ich mich wagen werde: Was sind die Gelegenheiten und Herausforderungen der Linkspolitik im 21. Jahrhundert? Wie sieht das humanistische Ideal dieses Jahrhunderts aus? Über diese Fragen werde ich in Zukunft mehrere Artikel verfassen.

 

Bis bald.

 

Göktug Alkan

 

 

 

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